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Fred bestand darauf, dass es ihm gut ging, als ich vor ihm stand. Ich hatte Schwesterherz praktisch aus der Tür geschoben und ihr versprochen, sie später anzurufen. „Ich sitze hier nur und genieße das Wetter“, behauptete er.

„Du hast dein ganzes Leben nie nur dagesessen und das Wetter genossen.“

„Klar doch. Schau nur, wie dieser Pfirsichbaum Blüten treibt. Ich hoffe, wie bekommen keinen Frost mehr.“

„Erzähl mir nicht so einen Quatsch. Was stimmt nicht?“

„Nichts. Ehrlich. Ich mache mir nur ein wenig Gedanken wegen des Geschäfts.“

Das Geschäft. Mein Herz raste nicht mehr ganz so schnell. Damit konnte ich umgehen.

„Keine Schmerzen in der Brust? Atemnot? Nichts verletzt?“

„Nur mein Stolz.“ Fred lächelte. „Beruhige dich, Patricia Anne. Du hast mich noch eine Weile.“

Ich sank neben ihn. Woofer kam angelaufen und legte seinen Kopf in meinen Schoß. „Erzähl mir, was los ist“, sagte ich.

„Nichts. Wirklich. Zumindest hoffe ich das. Es ist nur, dass Universal Satellite keine Aufträge mehr an uns vergibt. Ich habe dort angerufen, und sie haben mir gesagt, wir seien von ihrer Zuliefererliste gestrichen worden.“

„Warum? Sie waren doch immer euer bester Kunde?“

 

„Wenn ich das verdammt noch mal wüsste. Ich versuche, da ein paar Antworten zu erhalten.“

„Das kommt wieder in Ordnung“, versicherte ich ihm. „Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis.“

„Das hoffe ich. Ich glaube, wir schaffen es nicht ohne sie.“

„Hör mal“, sagte ich. „Wir haben zu essen, und das Haus ist abbezahlt. Metal Fab ist schließlich kein lebenswichtiges Organ.“ Bei meiner letzten Bemerkung war ich mir nicht sicher. Die Firma, die Fred ins Leben gerufen und vierzig Jahre lang gehegt und gepflegt hatte, war für ihn von existenzieller Bedeutung. „Das kommt wieder in Ordnung“, sagte ich noch einmal.

„Sicherlich. Ich würde die Firma einfach gern noch ein paar Jahre durchziehen und sie dann verkaufen, so dass wir, ohne uns Sorgen machen zu müssen, in den Ruhestand gehen können.“ Er stand auf und streckte mir die Hand hin, um mich hochzuziehen. „Komm. Der Tag ist zu schön heute, um hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen.“

„Aber warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Du kannst doch da überhaupt nichts tun.“

„Ich kann mir zusammen mit dir Sorgen machen.“

„Genau deshalb habe ich es dir nicht erzählt. Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst.“

Alans Auto kam in die Auffahrt gefahren.

„Das bleibt unter uns. Okay?“

„Okay“, willigte ich ein.

Lisa lehnte sich über den Zaun. „He, ihr beiden Turtel-täubchen. Wir bringen die größte Pizza mit, die ihr je gesehen habt.“

Es war nett, die beiden zu so einem gemütlichen Besuch dazuhaben. Sie leben, wie Freddie, unser Altester, in Atlanta, und wenn sie kommen, bringen sie normalerweise die Kinder mit. Aber an diesem Wochenende waren die

 

Jungs auf einer Zelttour mit den Pfadfindern in den Smoky Mountains.

„Ich habe geweint“, sagte Lisa, „als ich sie in den Bus setzte. Sie werden zu schnell groß.“

„Du kannst dir ja noch ein weiteres zulegen“, sagte ich.

Lisa und Alan lachten. „Jetzt sind erst einmal Freddie und Haley dran, Mama“, sagte Alan. „Apropos, wir waren bei Haley, um uns das Basketballspiel im Fernsehen anzuschauen, und der HNO-Doktor war da, Papa.“

„Ah, die Macht des Gebets.“ Fred nahm sich noch ein Stück Pizza. Die Sorgen waren ihm nicht auf den Magen geschlagen.

Gegen zwei Uhr früh nahm er allerdings ein Mittel gegen Sodbrennen.

„Alles okay mit dir?“, brummelte ich.

„Alles okay. Ehrenwort. Schlaf weiter, mein Schatz.“

Ich befolgte seine Anweisung.

Die Hochzeit hatte an einem Samstag stattgefunden. Der Sonntag war ein ruhiger Tag. Lisa und Alan brachen so gegen drei Uhr wieder in Richtung Atlanta auf. Wir holten uns einen Film aus der Videothek,, und ich öffne zum Abendessen eine Dose Hühner-Nudelsuppe. Fred wollte nicht über Metal Fab reden, und Mary Alice machte keinen ihrer gewöhnlichen Überraschungsbesuche. Der große Knall kam erst am Montag.

Der Tag startete friedlich. Mary Alice rief an und fragte mich, ob ich mit ihr und Meg Bryan im Tutwiler Mittagessen gehen wolle. Meg wolle in die Bibliothek, und sie, Schwester herz, habe gedacht, es wäre doch eine nette Idee, sie zum Mittagessen einzuladen, und das Tutwiler sei ja so angenehm und so elegant, seit es komplett umgestaltet worden sei. Meg würde sicher beeindruckt sein, weil sie sich

 

bestimmt nur an das alte Tutwiler erinnere. Das neue befinde sich sogar an einem anderen Ort, dort, wo früher die Ridgeley Apartments standen. Ob ich mich noch erinnern könne, dass der einzige nachts geöffnete Drugstore von Birmingham der im alten Tutwiler war? Mitten in der Stadt, und nie habe es einen Raubüberfall gegeben.

„Um wie viel Uhr?“, fragte ich.

„Um Viertel vor zwölf. Ich hol dich ab.“

Ich verbrachte den Vormittag damit, das Haus aufzuräumen, die Bettlaken zu wechseln und ein paar Maschinen Wäsche zu waschen. Ich ließ meinen üblichen vormittäglichen Erdnussbuttertoast aus, um viel Geld für ein elegantes Mittagessen ausgeben zu können, und holte das beigefarbene Frühlingskostüm aus dem Schrank, das ich letztes Jahr gekauft hatte. Das Wetter hielt sich, und Vulcanus leuchtete mit seinem nackten Hintern über Shades Valley, als Woofer und ich unseren Spaziergang machten.

Schwesterherz drückte pünktlich auf die Hupe, und als ich in das Auto stieg, stellte ich fest, dass sie und Meg sich auch schick gemacht hatten. Schwesterherz trug einen marineblauen Anzug mit einer getupften Bluse, während Meg Bryan in der blaugrauen Leinenjacke, die sie über einem blass geblümten Kleid trug, verloren und zerbrechlich wirkte. Haut, Haar und Stoff waren gleichermaßen unauffällig. Ich überlegte, ob ich mir den Pitbull nur eingebildet hatte.

Aber nein. Sie war mit zwei Aktentaschen bewaffnet, von denen eine ihren Computer enthielt. In der anderen steckten Dokumente, an die die CIA nur mit großen Schwierigkeiten herangekommen wäre. Beim Mittagessen belegten diese Aktentaschen den vierten Stuhl an unserem Tisch und wurden gelegentlich von Meg getätschelt. Ein Hauch von >Mein Freund Harvey' umwehte uns.

Alles in allem war es jedoch ein nettes Mittagessen.

 

Nachdem wir gerade ein in drei Portionen geteiltes Stück Erdbeerkäsetorte bestellt hatten, ließ mich eine tiefe Stimme hinter mir hochfahren.

„Meg!“

Meg schreckte ebenfalls zusammen. Dann sagte sie: „Hallo, Bobby.“

„Was machst du denn hier?“

„Ich bin zur Hochzeit meines Cousins hergekommen und will während meines Aufenthalts ein paar Recherchen vornehmen. „

„Wo ist Trinity?“

„Zu Hause.“

Der Mann war hinter den Stuhl mit den Aktentaschen getreten. Halb erwartete ich, dass Meg gleich nach ihnen grabschen würde. Stattdessen machte sie uns miteinander bekannt.

„Mrs. Hollowell, Mrs. Crane, darf ich Ihnen Richter Robert Haskins vorstellen?“

Der Richter nickte zu der Vorstellung, obwohl er deutlich nicht daran interessiert war. „Was recherchierst du denn?“, fragte er Meg.

„Das wüsstest du wohl gern.“ Ein Lächeln huschte über Megs Gesicht. Oder kräuselte sie nur leicht die Lippen?

„Du sitzt an der Fitzpatrick-Sache, stimmt's?“ Der Richter war ein kleiner Mann mit einem hageren Gesicht. Seine schmale Brille rutschte ihm immer wieder über die Nase und musste von ihm zurückgeschoben werden.

„Es geht um nichts Wichtiges“, sagte Meg. „Nur um eine Familie aus Mobile.“

„Bist du mit den Whitleys fertig?“

„Ja.“

„Haha!“ Der Richter schlug auf den Stuhlrücken. „Ich hoffte, dass du das sagen würdest.“

 

-Weshalb?“

„Weil du nur denkst, dass du mit ihnen fertig bist.“ Er gluckste jetzt geradezu. „Das denkst du nur, Meggie, mein Mädchen.“

„Was meinst du damit?“ Megs Gesicht war so rot wie nur möglich. Fast schon lila.

„Ich habe was in meinem Büro, das du sehen musst, Meg.“

-Was?“

„Es wird dich aber etwas kosten.“

„Und zwar?“

„Dass ich einen Blick auf Vincent Fitzpatrick werfen darf.“

Meg dachte einen Moment lang nach.

„Entschuldigen Sie.“ Der Kellner griff um den Richter herum, um unsere Käsetorte abzustellen. „Noch etwas Kaffee?“

„Gern“, sagten Mary Alice und ich.

„Gib mir die Aktentasche da, Bobby“, sagte Meg. Sie ließ sie sich von ihm geben, kramte in ihr herum und brachte einen braunen Briefumschlag zum Vorschein. „Du zeigst mir deins, und ich zeig dir meins.“

„Mein Büro ist direkt im Gerichtsgebäude, Meg. Gleich hinter dem Park.“

„Lass uns gehen.“ Meg Bryan schob ihren Stuhl zurück. „Ich bin dann nachher in der Bibliothek. In der Abteilung Südstaaten. Wahrscheinlich schon, wenn Sie fertig sind mit Ihrem Kaffee. Würde es Ihnen was ausmachen, mir meine Aktentaschen mit dorthin zu bringen?“

Mary Alice und ich sahen uns an. „Einverstanden.“

Meg Bryan und Richter Haskins verließen den Speiseraum.

„Was zum Teufel sollte das denn?“, fragte Schwesterherz.

 

„Wer weiß? Hier“ - ich schnitt Megs Portion vom Käsekuchen in zwei Teile— „hier ist noch was für uns.“

„Deine Magersucht ist besser geworden, nicht wahr?“, sagte Schwesterherz. Manchmal denke ich, sie hält mich wirklich für magersüchtig.

„Ich gebe mir Mühe.“

Mary Alice hatte sich von ihrem kurzen „Leeres-Nest-Syndrom“-Anfall erholt und war heute guter Laune. „Was, glaubst du, ist auf dem Computer?“ Sie deutete auf den Stuhl.

„Nichts, was wir entschlüsseln könnten, wenn wir es sehen würden.“ Ich schob mir genüsslich das letzte Stück Käsekuchen in den Mund. „Meinst du, der ist von Sara Lee ?“

„Red keinen Unsinn. Die Desserts hier sind hausgemacht.“

„Na, könnte doch sein. Sara Lee ist prima. Tu deinen eigenen Belag drauf, und alle denken, du hättest den Kuchen selbst gebacken. Henry sagt, dass eine Menge Restaurants das so machen.“

Schwesterherz zuckte gedankenverloren die Achseln. „Vielleicht sollten wir Meg unseren Familienstammbaum erforschen lassen.“

Jetzt war es an mir, mit der Schulter zu zucken. „Du und Fred. Und wer weiß, was ihr da findet? Pferdediebe. Mörder. Du wirst dann womöglich so unglücklich sein wie diese Frau auf der Hochzeit. Diese Camille Atchison. Wer war sie überhaupt?“

„Keine Ahnung. Jemand von Henrys Gästeliste.“ Sie aß ihr letztes Stück Käsekuchen. „Es könnte dennoch lustig sein. Ich wette, wir haben alle möglichen interessanten Vorfahren. Wie viel sie wohl dafür nimmt?“

Ich fischte mit meiner Gabel Grahamcracker-Krümel

 

vom Teller. „Meg? Eine Menge. Wahrscheinlich rechnet sie auf Stundenhonorarbasis ab.“

„Das ist doch okay.“

„Vielleicht für dich, Krösus. Fred macht sich selbst dran.“ Ich ließ die letzten Krümel Krümel sein. „Komm. Lass uns rüber in die Bibliothek gehen. Mal sehen, was es da so gibt.“

Wir schnappten uns Meg Bryans Aktentaschen und machten uns auf den Weg in die wissenschaftliche Bibliothek, genauer: in die Abteilung Südstaaten.

Der Forschungsteil befindet sich in der ehemaligen Hauptbibliothek. Diese hat hohe, gewölbte Decken, ihre Wände sind mit mythologischen Figuren bemalt, und sie verfügt über zahllose Reihen von Studiertischen, die viel benutzt werden. Und anders als im neuen, modernen Gebäude auf der anderen Seite der Straße riecht es dort nach Bibliothek, einer Kombination aus alten Büchern, Tinte, Möbelpolitur und Bohnerwachs. Der Geruch isr so spezifisch wie der einer Schule.

Ich sog genussvoll den Duft ein, als wir den Hauptlesesaal in Richtung Aufzüge durchquerten.

„Brauchst du ein Taschentuch?“, fragte Schwesterherz.

Und dann waren wir in der Abteilung, in der ich meinen ersten Job hatte. Das Porträt von Miss Boxx - der Dame, die für diese eindrucksvolle Sammlung zur Geschichte der Südstaaten verantwortlich war - starrte heute wie damals, als ich neunzehn war, streng auf mich herab. Der Künstler hatte sie mit einem warnenden Blick dargestellt, so als solle man nur nicht wagen, durcheinanderzubringen, was sie mühsam zusammengesammelt hatte.

„Die genealogischen Sachen sind da drüben“, sagte ich und ging nach links.

„Guter Gott!“, sagte Schwesterherz, als ein Dutzend

 

Megs von ihren Tischen aufblickten, um zu sehen, wer da hereingekommen war. Sie runzelten die Stirn, nahmen dann aber ihre Arbeit wieder auf.

„Die sehen alle gleich aus“, flüsterte Schwesterherz.

„Ich glaube, das ist dieselbe Truppe, die hier schon vor vierzig Jahren saß.“ Mit unserem Kichern ernteten wir erneutes Stirnrunzeln. „Komm, lass uns mal einen Blick in die Abteilung Georgia werfen. Fred hat gesagt, seine Urgroßmutter oder so ist in Madison geboren.“

„Wie hieß sie denn?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht stoßen wir auf ein paar Tates. Alle in Alabama stammen aus Georgia oder South Carolina. Oder Virginia.“

„Das schränkt es nun wirklich ein.“ Mary Alice folgte mir in die Abteilung Georgia. Gebundene Unterlagen standen alphabetisch nach Staaten sortiert da.

„Landzuweisungen?“, sagte ich fragend mit einem Blick auf die Regale, „Bevölkerungsregister? Sterbelisten?“

„Igitt.“ Mary Alice warf die Aktentaschen auf einen Tisch. Zwei Megs blickten mit gerunzelter Stirn auf. „Lass uns einfach auf Meg warten.“

Ich hatte aber bereits ein Bevölkerungsregister von 1842 aufgeschlagen und im Index einen Täte aufgeführt gefunden. „Schau her. Seite neunundvierzig.“

„Vielleicht, wie du dich so schön ausgedrückt hast, ein Pferdedieb. Ich möchte nur über die Guten was erfahren.“

„Das ist ein Cuter. Joshua Tree Täte, Landeigentümer. Ehefrau: Maria Caldwell Tate. Fünf Kinder. Siehst du?“ Ich reichte Schwesterherz das Buch.

„Was für ein Name ist denn Joshua Tree? Gibt es Joshuabäume nicht tatsächlich?“

„Ich wette, dass seine Mutter Tree hieß.“

 

„Pssst“, machten die beiden alten Damen an unserem Tisch.

„Weißt du was, Maus?“, flüsterte Schwesterherz mir unter Benutzung meines Spitznamens aus Kindertagen zu. „Diese Jungs haben alle das richtige Alter, um noch im Bürgerkrieg gedient zu haben.“

„Die entsprechenden Register stehen ebenfalls hier“, sagte ich. „Wir könnten nachschauen, in welchem Regiment sie waren und ob sie gefallen sind.“

Wir hatten angebissen.

Es war bereits mindestens eine halbe Stunde vergangen, als Mary Alice die Frage stellte, wo eigentlich Meg abgeblieben sei. „Sie sagte doch, sie würde in ein paar Minuten da sein.“

Eine zweite halbe Stunde war vergangen, als wir seltsame Geräusche draußen vernahmen: Feuerwehrzüge, Polizeiautos, Krankenwagen, die allesamt mit quietschenden Bremsen ganz in der Nähe der Bibliothek zum Stehen kamen.

„Meinst du, es sollte jemand -Feuer- rufen?“, fragte Schwesterherz.

„Irgendwas ist da los. Ich wünschte, diese verflixten Fenster wären nicht so weit oben.“

Die Bibliothekarin sprach in ihren Telefonapparat. Sie legte auf und kam herüber zu unserem Tisch. „Irgendwas ist drüben beim Gerichtsgebäude passiert. Es hat nichts mit uns zu tun.“

„Eine Schießerei?“, fragte eine der Megs erwartungsvoll.

„Ich glaube nicht“, beteuerte die Bibliothekarin.

„Wir versuchen besser, Meg zu finden“, sagte Schwesterherz. „Vielleicht versucht sie ja durch den Park zu gehen, und sie haben ihn abgesperrt.“

Aber der kleine Park zwischen dem Gerichtsgebäude und der Bibliothek war nicht abgesperrt. Wir liefen quer durch

 

ihn hindurch auf eine Menge zu, die sich um ein paar Polizeiautos, eine Feuerwehr und einen Rettungswagen versammelt hatte.

„Irgendjemand muss einen Herzanfall gehabt haben“, sagte ich.

Vor uns drehte sich ein Mann um. „Jemand hat sich runtergestürzt.- „

„Was?“

„Vom achten Stock.“

„O mein Gott!“ Mary Alice presste sich die Hände auf den Mund. „Lass uns in die Bibliothek zurückgehen, Maus.“

Ich nickte. Mein Magen hat sich beim Anblick von Blut nie kooperativ verhalten.

Wir waren schon fast an dem Brunnen in der Mitte des Parks, als wir hinter uns Schritte vernahmen.

„Warten Sie, warten Sie!“, rief Richter Haskins. Außer Atem und mit rotem Gesicht taumelte er zum Rand des Beckens, setzte sich und vergrub den Kopf zwischen seinen Knien.

„O Gott, mir ist ganz elend“, japste er.

Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner Handtasche, tauchte es in den Brunnen und drückte es ihm auf die Stirn. „Halten Sie schön den Kopf nach unten.“

„Das Wasser ist doch völlig verdreckt“, sagte Schwesterherz. „Da pinkeln die Kinder rein.“ Ich blickte sie scharf an. ->Na ja, wenn sie drin rumwaten.“

Aber den Richter kümmerten die Bakterien nicht. Er nahm das nasse Papiertaschentuch und hielt es sich an die Augen. Ich suchte ein weiteres in meiner Tasche.

„Haben Sie einen Herzanfall oder so was in der Art?“, fragte ich und kniete mich neben ihn. „Die Sanitäter sind gleich da drüben.“

 

„Sie ist tot“, murmelte er.

„Was hat er gesagt?“, fragte Schwesterherz.

„Er hat gesagt, >sie ist tot<.“

„Es war eine Frau, die gesprungen ist?“

„O mein Gott.“ Der Richter begann laut und keuchend zu schluchzen. Er hielt den Kopf weiter gesenkt, und ich konnte seine rosa Kopfhaut durch das dünner werdende weiße Haar sehen.

Plötzlich wusste ich es. „Es war Meg“, sagte ich. „Meg ist tot, stimmt's?“

Mary Alice sank neben den Richter auf den Brunnenrand nieder. „Sei nicht albern. Das kann nicht Meg gewesen sein.“

Aber der Richter bestätigte mit einem Nicken, was ich gesagt hatte.

Mary Alice rüttelte ihn an der Schulter. „Wollen Sie uns damit sagen, dass Meg Bryan aus dem achten Stock des Gerichtsgebäudes gesprungen ist?“

Sein Kopf machte eine Nein-Bewegung.

Ich schloss erleichtert die Augen. Mary Alice stieß einen kurzen Pfiff aus: „Puuuh!“

„Aus dem neunten.“

Schwesterherz und ich starrten einander an. „Was?“, sagten wir wie aus einem Munde.

Er schluchzte erneut. „Sie ist tot.“

Mary Alice schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem glitzernden Brunnen und begoss damit Richter Haskins' gebeugten Nacken. „Setzen Sie sich auf und reden Sie wie jemand mit Verstand!“

Einen Moment lang war er ganz still, und ich dachte, sie hätte ihn umgebracht. Dann hob er jedoch mit einem langen Seufzer den Kopf. „Haben Sie noch ein Taschentuch?“

Ich reichte ihm ein weiteres, mit dem er sich sein Gesicht abwischte. „Danke.“

 

„Nun?“, sagte Mary Alice. Hinter uns fuhr das Feuerwehrauto davon.

„Meg ist aus dem neunten Stock gesprungen. Oder dem zehnten. Egal. Ich saß jedenfalls an meinem Schreibtisch im achten, und sie segelte vorbei. Sah mir direkt ins Gesicht. Ich glaube, sie sagte auf Wiedersehen. So ungefähr.“ Er ahmte ein übertriebenes „Wiiiiiiederseeeehen!“ nach und hickste. Tränen begannen ihm über das Gesicht zu laufen. „Es war schrecklich.“ Die Hände auf seinen Hosenbeinen zitterten. Alte Hände. Mit Leberflecken.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Meg ist tot?“, fragte Mary Alice.

„Das hat er jedenfalls gesagt, Schwesterherz.“ Ich tätschelte die Hand des Richters.

„Du lieber Gott. Warum hat sie das denn getan?“

Der Richter sagte, er habe keine Ahnung. Sie hätten ihre genealogischen Funde verglichen, und dann sei Meg gegangen. Das Nächste, was er mitbekommen habe, sei, dass sie an seinem Fenster vorbeigesegelt sei und hereingestarrt habe. > Wiiiiiederseeeeehen“, ahmte er erneut nach.

„Sie wirkte absolut nicht selbstmordgefährdet auf mich“, meinte Mary Alice. „Sie hat doch noch schön zu Mittag gegessen, nicht wahr, Maus? Drei von diesen Kalbsmedaillons mit Orangensauce. Und grüne Bohnen mit Mandeln.“

„Wir haben ihren Käsekuchen aufgegessen“, sagte ich.

Wir schwiegen alle drei einen Augenblick lang und beobachteten, wie sich die Menge teilte, um die Rettungssanitäter durchzulassen. Es gab nichts mehr, was sie hätten tun können.

„Patricia Anne“, sagte Schwesterherz, „du solltest ihnen sagen, wer die Leiche ist.“

 

„Sie war doch dein Cast — die Cousine deines Schwiegersohnes.“

Der Richter stand auf. Seine Beine waren wackelig, aber seine Stimme war fest. „Ich werde es ihnen mitteilen“, sagte er.

„Wohin werden sie sie wohl bringen?“, fragte Mary Alice. „In ein Beerdigungsinstitut?“

„Ich nehme an, ins Leichenschauhaus.“ Der Richter machte sich auf den Weg, um sich dann doch noch einmal umzudrehen. „Werden Sie ihre Familie benachrichtigen?“

„Ich weiß nicht, wie ich die erreiche“, sagte Schwesterherz

„Ihre Schwester, Trinity Buckalew, lebt in Fairhope. Sie wird es allen sagen. Glauben Sie mir.“

„Eine von uns ruft sie an“, versprach Schwesterherz.

„Du rufst an“, sagte ich. „Sie war dein Cast.“ Ich sah dem Richter hinterher und dachte an das, worauf er zuging: den zerschmetterten Körper auf den Stufen des Gerichtsgebäudes, das zerknitterte und blutige geblümte Kleid mit der blaiigrauen Jacke. Den verstreuten Inhalt der schwarzen Handtasche. Schuhe auf dem Bürgersteig. Mich fröstelte.

„Warten Sie einen Moment!“, rief ich Richter Haskins hinterher.

Er drehte sich um. „Was?“

Ich sprang hoch, lief auf ihn zu und riss Meg Bryans Aktentasche - die schwerere mit dem Computer - unter seinem Arm weg.

„Oh, tut mir leid“, sagte er. „Ich bin derartig aufgeregt, ich weiß nicht mehr, was ich tue.“

„Das kann ich verstehen.“ Ich ging zurück zu dem Brunnen. „Hast du das gesehen?“, fragte ich Schwesterherz. „Er hat doch glatt versucht, mit Meg Bryans Computer abzuhauen, und das, wo sie mausetot da drüben liegt.“

 

Schwester herz schüttelte den Kopf. „Ich kann es noch immer nicht glauben. Sie war so nett und so ruhig. So damenhaft.“ Sie deutete auf die Menge. „Schau dir den Aufruhr an, den sie verursacht hat. Das ist alles andere als damenhaft.“

„Was würdest du denn einer Dame empfehlen, wenn die sich um die Ecke bringen will?“

„Nichts Blutiges. Eine Packung Valium schlucken und dann ins Wasser gehen, wäre doch vielleicht ganz hübsch.“ Sie stand seufzend auf. „Na ja, wenigstens hatte sie noch ein schönes Mittagessen.“

„Das ist doch ein gewisser Ausgleich, nicht?“

Sarkasmus ist an Schwesterherz verschwendet. Sie stimmte mir zu: „Ja, genau, das ist es.“